Flugrouten - Frühling
Brunhild Hauschild, 3/2013

In den Zonen der Luft ist es bereits Frühling, wenn die ersten Vogelschwärme Muster in den Himmel zeichnen. Plötzlich erscheinen lebendige, sich ständig verändernde Bilder unter den Wolken, so, als wenn ein Maler mit Bleistift etwas entwirft und dann doch wieder ausradiert.
Ein sicheres Zeichen für den Frühlingsbeginn. Und es wird unruhig. Morgens weckt mich die Amsel mit einer leisen Melodie, die von Tag zu Tag lauter in eine Sinfonie übergeht. Ein Flattern und Fliegen, ein Kreischen und Schreien erfüllt plötzlich den Himmel. Ich spüre die Unruhe. Sie hat bereits alles erfasst, überträgt sich.
Bei den Zugvögeln scheint es eine besondere geheimnisvolle Spannung zu sein, die sie ergreift. Zuerst kommen die Gänse aus dem Norden. Seit tausenden von Jahren ist es so. Jedes Federherz hat seine Flugordnung, seinen Reiseweg. Und jedes Vogelvolk hat einen anderen Weg, benutzt eine andere Route. Keiner kommt sich in die Quere. Unsichtbar liegen die Reiserouten in der Vogelseele.
Sie verständigen sich in ihrer Vogelsprache, rufen sich trompetend oder schnatternd wichtige Informationen zu. Und jedes Jahr, sobald ich die Rufe wahrnehme, hebe ich staunend meinen Blick zum Himmel. In den ersten Wochen, wenn die Krokusse sich durch die kalte Erde wagen und die ersten Winterlinge ihre sonnengelben Blüten zeigen, werde ich jede Nacht, manchmal mehrmals, durch lautes Schnattern geweckt. Es müssen Unmengen von Fluggänsen sein, deren Flugroute genau über unser Neubaugebiet verläuft.
Lauschend liege ich in meinem warmen Bett und fange an zu philosophieren.
Soll ich deshalb für ein Nachtflugverbot demonstrieren? Ich komme immer wieder auf die Frage: was war zuerst da? Dann drehe ich mich wohlig in meinem Federbett aus Daunenfedern (vielleicht von Fluggänsen?) um und fühle mich heimelig und zufrieden.
Ich mag diesen Fluglärm, der nichts mit Motoren, Düsen oder Cerosin zu tun hat. Wo sich im Cockpit der Schwärme die Piloten abwechseln, wenn sie müde sind.
Mich stören die Flugrouten der Gänse nicht wirklich. Und es wird ja bald Frühling, sagen mir die Überflieger.

© Brunhild Hauschild
Veröffentlichungen, auch auszugsweise, nur mit meiner schriftlichen Zustimmung